Geier über der Ukraine

Die ukrainische Bevölkerung kämpft an zwei Fronten

Die russische Invasion in der ­Ukraine hat große Teile der dortigen Wirtschaft zum Erliegen gebracht. Der Staat kann seine Aufgaben nur finanzieren, indem er Schulden am internationalen Kapitalmarkt macht. Die Gläubiger zwingen dem Land einen neoliberalen Umbau auf. Nun fordert eine internationale Solidaritätskampagne die Streichung der ukrainischen Auslandsschulden.

Der Krieg hat die Wirtschaft der Ukraine in eine tiefe Rezession gestürzt; innerhalb eines Jahres ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um rund 30 Prozent gesunken. Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Flucht. Die monatlichen Ausgaben des Staates kann die Regierung nur durch neue Schulden finanzieren.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes wird zusätzlich enorme Summen kosten. Die Gelder dazu leiht die Ukraine sich auf dem internationalen Kapitalmarkt und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) – zu Bedingungen, mittels derer die Gläubiger sich das Land und seine Ressourcen unter den Nagel reißen wollen.

Ein großer Teil der Wirtschaft ist durch den Krieg zum Stillstand gekommen; eine Inflation von bis zu 26,6 Prozent Ende 2022 hat die Realeinkommen drastisch gesenkt. Nur 60 Prozent der Ukrainer:innen konnten ihren Arbeitsplatz behalten. Viele Menschen verloren nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihr Zuhause und ihre Angehörigen. Die Zahl der zivilen Opfer geht in die Zehntausende, die der militärischen Opfer dürfte noch höher sein.
8,2 Millionen Menschen sind außer, 5 Millionen innerhalb des Landes geflüchtet. Die Auslandsschulden der Ukraine beliefen sich Anfang 2023 auf 132 Milliarden US-Dollar, über 80 Prozent des BIP.
Im März 2023 haben die Gläubigerländer in einer gemeinsamen Vereinbarung mit der Ukraine die im letzten Jahr beschlossene Aussetzung der bisherigen Zahlungsverpflichtungen bis 2027 verlängert. »Aber Vorsicht«, sagt Eric Toussaint vom CADTM*, »dies gilt nicht für alle Gläubiger, insbesondere nicht für den IWF und die privaten Gläubiger; außerdem werden während der teilweisen Aussetzung die anfallenden Zinszahlungen weiter angerechnet und zum Darlehenskapital, das gemäß den unterzeichneten Vereinbarungen vollständig zurückgezahlt werden muss, hinzugerechnet.«
Der größte Teil der finanziellen Hilfe an die Ukraine erfolgt in Form von Krediten; die Hilfe wird also zu einer neuen Verschuldung. So ist auch die »außergewöhnliche« Hilfe von bis zu 55 Milliarden Euro, die die EU im November 2022 angekündigt hat, vollständig und mit Zinsen zurückzuzahlen; dabei gelten die Auflagen des IWF.
Die ukrainischen Behörden begrüßen dies, aber es ist, wie Eric Toussaint sich ausdrückt, ein »vergiftetes Geschenk für das Volk, denn nach den derzeitigen Ankündigungen wird die Rückzahlung des Kapitals erst in etwa zehn Jahren beginnen.
So wird die Regierung ermutigt, sich zu verschulden, weil sie einerseits einen hohen Bedarf hat und andererseits während ihrer Amtszeit nicht mit der Rückzahlung beginnen muss. Die Hauptlast der Schuldenrückzahlung wird auf andere Regierungen und unweigerlich auf das Volk zurückfallen.«
Die USA haben sich für Zuschüsse statt Kredite entschieden, wie beim Marshallplan für den Wiederaufbau der Wirtschaft ihrer westeuropäischen Verbündeten Ende der 1940er Jahre. Sie haben sich verpflichtet, über 73 Milliarden zur Verfügung zu stellen. Diese Spenden, die ebenfalls an die Auflagen des IWF gebunden sind, werden zum Teil für den Kauf von Waren und Dienstleistungen ausgegeben, die von Unternehmen in den USA verkauft werden.

Räuber am Werk
Der IWF macht die Gewährung von Krediten von der Umsetzung harter neoliberaler Auflagen abhängig. Seit dem Jahr 2000 hat der IWF die ukrainischen Behörden mit 18 Kreditvereinbarungen (Memoranden) dazu gebracht, eine »Schockstrategie« umzusetzen: Liberalisierung und Förderung des Außenhandels, Freigabe der Preise, Abbau von Verbrauchersubventionen für die Ärmsten, Verschlechterung des Zugangs zu zahlreichen grundlegenden Dienstleistungen, Beschleunigung des Privatisierungsprozesses von Staatsbetrieben, Abbau des Arbeitsrechts.
Die Auswirkungen der vom IWF empfohlenen Politik führten zu einer extremen Verarmung der Bevölkerung, sodass die Ukraine bereits im Jahr 2015 bei den Reallöhnen am unteren Ende der Skala aller europäischen Länder lag.
Um den Auflagen des IWF und der Gläubiger Folge zu leisten, nahm die ukrainische Regierung im Sommer 2022 Änderungen am Arbeitsgesetz vor, durch die 70 Prozent der Beschäftigten den Schutz des nationalen Arbeitsrechts sowie das Recht auf Tarifverhandlungen verloren. »Null-Stunden-Verträge« nach britischem Muster, bei denen die abhängig Beschäftigten nicht wissen, wie viel Arbeit sie von einer Woche zur nächsten erhalten werden, wurden legalisiert.
Zu den wichtigsten natürlichen Ressourcen der Ukraine gehört mit rund 320000 Quadratkilometern die fruchtbare Schwarzerde (Tschernosem); dies entspricht einem Drittel der Ackerfläche der gesamten EU. Die »Kornkammer Europas« produziert jährlich 64 Millionen Tonnen Getreide und Saatgut und gehört zu den weltweit größten Erzeugern von Gerste, Weizen und Sonnenblumenöl; sie ist für sieben Millionen Bauern mit je 2–4 Hektar Land Eigenbesitz die Lebensgrundlage.
Im Jahr 2001 wurde ein Moratorium für den Verkauf von Agrarland an Ausländer verhängt, um die ungezügelte Privatisierung zu begrenzen. Nachdem das US-Außenministerium, der IWF und die Weltbank wiederholt die Aufhebung dieses Moratoriums gefordert haben, wurde es von der Regierung Selenskyj im Juni 2020 aufgehoben – noch vor einem für 2024 geplanten Referendum darüber.

Internationaler Widerstand
Im Juli 2022 trafen sich Vertreter der USA, der EU, Großbritanniens, Japans und Südkoreas in der Schweiz zu einer sog. Ukraine Recovery Conference, um Privatisierung, Deregulierung, Energiereform, Steuer- und Zollreform und die Privatisierung der staatlichen Unternehmen voranzutreiben.
Am 21. und 22.Juni 2023 fand in London eine weitere Recovery Conference statt, um den Druck auf die Ukraine zu erhöhen. Doch diesmal ging ihr Treffen einher mit einer Gegenkonferenz der britischen Ukraine Solidarity Campaign (ukrainesolidaritycampaign.org), unterstützt vom »Europäischen Netzwerk für die Solidarität mit der Ukraine« (ENSU).
Unter dem Titel »Eine andere Ukraine ist möglich« fanden bei dieser Veranstaltung am 17.Juni 2023 Anhörungen und Diskussionen mit ukrainischen und britischen Sozialaktivist:innen und Akademiker:innen, Gewerkschafter:innen und Parlamentsabgeordneten zu Schlüsselfragen des ukrainischen Kampfes für Freiheit und Wiederaufbau und über die wirtschaftliche, soziale und ökologische Erholung der Ukraine von den Folgen des Krieges statt.
Ein zentrales Anliegen dabei ist die Streichung der ukrainischen Auslandsschulden, eine Forderung, die es durch eine internationale Kampagne zu unterstützen gilt. Nur durch die Streichung der illegitimen Schulden können die Ukraine und die dort lebenden und arbeitenden Menschen aus dem Würgegriff der Geier befreit werden.
In diesem Sinne kämpfen ukrainische Linke und Gewerkschaften derzeit an zwei Fronten zugleich: einerseits gegen die russische Aggression und anderseits gegen die von der Selenskyj-Regierung mitgetragene neoliberale Politik von Gläubigern und dem IWF. Eine konsequente Unterstützung der ukrainischen Linken und Gewerkschaften in diesem doppelten Kampf durch die westlichen sozialen Bewegungen und sozialistische Linke wäre ein für beide Seiten wechselseitig interessanter und fruchtbarer Prozess.
Einerseits wäre dies eine gemeinsame Mobilisierung für den Stopp der Bombardierungen durch Russland und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine zur schnellstmöglichen Beendigung dieses Krieges. Andererseits würde eine breite Kampagne zur Streichung der Auslandsschulden der Ukraine, verbunden mit einer Unterstützung der ukrainischen Linken und der Gewerkschaften gegen die neoliberale und arbeiterfeindliche Politik der Selenskyj-Regierung den Weg öffnen für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine im Interesse der Vielen, nicht der Wenigen.
Ein Wiederaufbau der Ukraine mit starkem Arbeitsrecht, umfassenden öffentlichen Dienstleistungen und einer guten Grundversorgung würde nicht nur Geflüchtete zur Rückkehr in ihr Land motivieren, er wäre auch ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der internationalen Arbeiterbewegung insgesamt.

*Das CADTM ist das Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden. Eric Toussaint ist ihr internationale Sprecher, der auch die Kommission für die Wahrheit über die griechischen Staatsschulden koordinierte (cadtm.org).

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