Bundestagswahl 2025:

Bundestagswahl 2025: Die wichtigsten Erkenntnisse und der Blick nach vorn

Dies ist eine ausführlichere Bestandsaufnahme, die ich zwei Wochen nach den Bundestagswahlen vom 23. Februar 2025 verfasst und auf Deutsch und Französisch in diesem Blog veröffentlicht habe. Inzwischen wurde dieser Beitrag auch von anderen Internetportalen übernommen (siehe am Ende des Beitrags).

Inhalt:

Vorbemerkung zum Stellenwert von Wahlen.
1) Rechtsruck auch in Deutschland.
2) Ampelparteien werden abgestraft.
3) Linke gestärkt.
4) Wahlbeteiligung hängt vom Einkommen ab.
5) AfD, die neue Arbeiterpartei?
6) Und nun?

(1) Rechtsruck auch in Deutschland: Bei den Wahlen vom 23. Februar 2025 wurde die CDU/CSU stärkste Fraktion im deutschen Bundestag, die AfD verdoppelt ihren Stimmenanteil und wird zweitstärkste Fraktion. Die Mehrheit im Bundestag ist rechts und rechtsextrem. Der Schulterschluss der CDU mit der AfD drei Wochen vor der Wahl kam vor allem der AfD zugute, ebenso das Vorhaben von SPD und Grünen, Teile des AfD-Narrativs zu übernehmen. Damit bestätigte sich eine erste politische Evidenz: Wer das Original kopiert, stärkt es.

(2) Ampelparteien werden abgestraft: Die SPD, die 2021 noch mit 25,7 % die meistgewählte Partei im Bundestag war, verliert 9,3 %-Punkte und die Hälfte ihrer Bundestagsmandate; sie fährt damit ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein. Die Grünen kommen mit einem blauen Auge davon. Die FDP, die an dem De-facto-Bündnis der CDU mit der AfD beteiligt war, verschwindet in der Versenkung. Damit bestätigt sich ein zweiter empirischer Befund: Wer Regierungsverantwortung trägt, während immer mehr Menschen die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren bekommen, wird abgestraft. In diesem Fall zugunsten der (extrem) rechten und linken Opposition.

(3) Linke gestärkt: Die Linke, der noch zu Jahresbeginn mit rund drei Prozent ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde prophezeit wurde, erlebte mit insgesamt 8,8 % einen spektakulären Aufschwung, mit 25% bei den jungen Wählern und 27 % bei den Erstwählern. Die Linke grenzte sich konsequent von der Rechten ab, griff soziale Themen auf, die die Menschen bewegten, machte zusammen mit vielen Neumitgliedern einen beeindruckenden Haustürwahlkampf und nutzte geschickt die sozialen Medien. Dies führt zu einer dritten Evidenz: Linke Politik, die antifaschistische Solidarität und die soziale Lage der Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird auch elektoral unterstützt.

(4)   Wahlbeteiligung hängt vom Einkommen ab: Die Wahlbeteiligung hat sich mit 82,5 % deutlich verbessert, ist aber von Wahlkreis zu Wahlkreis sehr unterschiedlich. Die Karte der Wahlbeteiligung ist deckungsgleich mit der Karte der Einkommenssituation der Menschen. Auch  das  ist empirisch belegt: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Hinzu kommt: Jugendliche unter 18 Jahren und vor allem 12,1 Millionen Ausländer und Staatenlosen in Deutschland haben kein Wahlrecht.

(5) AfD, die neue Arbeiterpartei? Bei den Arbeiter*innen und Arbeitslosen ist die AfD die stärkste Partei. Die AfD inszeniert sich als „Partei der kleinen Leute“ und verbindet damit auch ihr Narrativ vom unaufhaltsamen Aufstieg. Doch aufgepasst: Der Anteil der „Arbeiter*innen“ an den Erwerbstätigen ist in den letzten Jahrzehnten auf 11 % geschrumpft, während derzeit 72 % der Erwerbstätigen Angestellte sind; dort ist die Union mit 26 % stärkste Partei. Zudem ist der Aufstieg weder linear noch unaufhaltsam.

(6) Und nun? Die Herausforderungen sind vielfältig: den Aufstieg der AfD, des rechten Gedankenguts und ihrer rassistischen Umtriebe einzudämmen und zu stoppen; die wachsende Ungleichheit und die Verschlechterung der sozialen Lage vieler Menschen zu bekämpfen und dabei auch die Herausforderungen des Klimawandels ernst zu nehmen; demokratische Entscheidungsstrukturen zu verteidigen und die Selbstorganisation und Selbstermächtigung der Menschen zu fördern. All dies ist auch mit der Frage des „system change“ verbunden.

Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen bilden den institutionellen Rahmen für politische Entscheidungen – sei es in der Wirtschafts-, Sozial-, Klima- oder Außenpolitik. Deshalb ist die Zeit vor der Wahl eine Zeit erhöhter Sensibilität für politische Themen – so auch bei der Bundestagswahl 2025. Zwar werden keine Minister und kein Bundeskanzler direkt gewählt, sondern 630 Abgeordnete aus 299 Wahlkreisen, aber die politische Zusammensetzung des Bundestages, die aus dieser Wahl hervorgeht, entscheidet mit darüber, welche Regierung und welche Politik ihr möglich sein wird.

Aber Wahlen allein entscheiden nicht darüber, wie sich die soziale und gesellschaftliche Situation der Menschen entwickelt. Auch die außerparlamentarische Opposition, d.h. die Mobilisierung von sozialen Bewegungen und Interessengruppen im öffentlichen Raum, auf der Straße, in den Medien und in der öffentlichen Debatte – als Teil der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse – spielt eine entscheidende Rolle dabei, welche Regierung welche Politik umsetzen kann. Nicht übersehen werden darf die politische Macht der ökonomisch Mächtigen, die in der öffentlichen Debatte meist nicht direkt in Erscheinung treten, aber ihre Macht in den Medien und im Staat für ihre Interessen zu nutzen wissen.

Ob z.B. die Union von CDU/CSU mit der AfD regieren oder paktieren kann, um Teile ihrer gemeinsamen Rechtspolitik umzusetzen, hängt wesentlich davon ab, was außerparlamentarische Mobilisierungen zulassen. Ebenso, welche Politik in der geplanten Koalition von Union und SPD umgesetzt wird.

Wahlergebnisse sind somit ein (verzerrtes) Abbild gesellschaftlicher Stimmungen und Kräfteverhältnisse, aber nicht allein ausschlaggebend für das politische Geschehen.

Nun zum Ergebnis der Bundestagswahl 2025.

Erster Befund: Der in den letzten Jahren und Jahrzehnten weltweit zu beobachtende Rechtstrend hat sich bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 auch in Deutschland in einem Rechtsruck niedergeschlagen.

Die AfD konnte ihr Wahlergebnis verdoppeln. Mit 20,8 % der abgegebenen Stimmen und 152 Abgeordneten (+10,4 %-Punkte und +69 Sitze gegenüber der Bundestagswahl 2021) wird die AfD zweitstärkste Kraft im Bundestag. Auch wenn sie sich aufgrund des rabiaten rechtsextremen Auftretens und der rassistischen Propaganda ihrer Spitzenkandidatin Alice Weigel sowie der Unterstützung durch Elon Musk mehr erhofft hatte, ist die extreme Rechte so stark wie seit 1945 nicht mehr im deutschen Bundestag vertreten.

Mit einem Zugewinn von 3,6 Prozentpunkten für die CDU und einer annähernden Stagnation der CSU wird die Union mit insgesamt 28,6 % und 208 Abgeordneten (+ 11) stärkste Fraktion im Bundestag. Allerdings fällt der Zuwachs deutlich geringer aus als erwartet. Die Union erholt sich nur geringfügig von ihrem Tiefststand bei der letzten Bundestagswahl (24,1 % im Jahr 2021) und bleibt weit entfernt von den 35-48 %, die sie von 1953 bis 2017 innehatte. Mitverantwortlich für die Stärkung der extremen Rechten ist die CDU, die drei Wochen vor der Wahl durch den Schulterschluss mit der AfD im Bundestag ihren Willen zu einer stramm rechten Politik deutlich gemacht hat, auch wenn ihr das wahltaktisch nicht wie erhofft geholfen hat.

Auch die Grünen und die SPD, allen voran ihr Spitzenkandidat Bundeskanzler Olaf Scholz, ließen lautstark erkennen, dass sie das von der AfD gesetzte Thema „mangelnde Sicherheit durch unkontrollierte Zuwanderung“ teilten. Sie präsentierten sich als effiziente „Zuwanderungsbegrenzer“ und konsequente Abschieber „illegaler Einwanderer“ präsentierten und versuchten damit das Narrativ der extremen Rechten zu übernehmen. Dieses wurde zu einem zentralen Thema im parteipolitischen Wahlkampf und in den Medien. Wahlpolitisch hat dies den Parteien der sogenannten Mitte nicht geholfen. Im Gegenteil: Bei dieser Bundestagswahl bestätigte sich eine erste politische Evidenz, die in zahlreichen politikwissenschaftlichen Studien längst belegt ist: Wer das Original kopiert, stärkt es.

Die AfD konnte 1.810.000 Nichtwähler*innen (17,5 % ihrer Wählerschaft) an die Wahlurnen bewegen, von der CDU wechselten 1.010.000 Wähler*innen zur AfD, von der FDP waren es 890.000, von der SPD 720.000 und von Linken und Grünen jeweils rund 100.000 Wähler*innen.

Die Union gewann 1.760.000 Wähler*innen von der SPD, 1.350.000 Wähler*innen von der FDP, 900.000 bisherige Nichtwähler*innen und 460.000 Wähler*innen von den Grünen. Durch die geplante Koalition von Union und SPD wird die AfD gleichzeitig stärkste Oppositionspartei im Bundestag, was ihr zusätzlichen Vorteile bringt. In den Altersgruppen der 25- bis 34-Jährigen ist die AfD mit 24% und bei den 35- bis 44-Jährigen mit 26% die stärkste Partei, bei den 18- bis 24-Jährigen ist die AfD mit 21% der Stimmen zweitstärkste Partei hinter der Linken mit 25%. In allen ostdeutschen Bundesländern ist die AfD mit durchschnittlich 34,5 % stärkste Partei (im Westen lag ihr Stimmenanteil durchschnittlich nur halb so hoch, nämlich bei 17,9 %).

Wichtige Anmerkung zu der Zahl der Sitze: der neue Bundestag umfasst nur noch 630 Sitze, der Bundestag, der 2021 gewählt wurde umfasste mit 103 Überhangmandaten noch 736 Sitze; durch eine Reform des Wahlgesetzes im März 2023 wurden die Überhangmandate abgeschafft, was bedeutet, dass der Bundestag 2014 insgesamt 14 % weniger Sitze hat als der derjenige von 2021. Ein Zuwachs an Sitzen ist demnach umso stärker zu bewerten, bei der Bewertung eines Verlustes muss die Verkleinerung des Bundestages berücksichtigt werden. Deshalb sagen Prozentzunahmen und -abnahmen mehr aus als Sitzgewinne oder -verluste.

Union und AfD kommen zusammen auf 49,3 % der abgegebenen Stimmen (+14,4 %) und stellen mit 360 Abgeordneten (+80) weit mehr als die Hälfte, genau 57 %, der insgesamt 630 Abgeordneten des Bundestages.  Für die Bundestagswahl 2025 zeichnet sich damit ein deutlicher Rechtsruck ab.

Die Regierungsparteien der so genannten Ampelkoalition SPD, Grüne und FDP wurden für ihre Politik, die die Lage vieler Menschen verschlechtert hat, wahlpolitisch abgestraft. Sie verloren 20 % der Stimmen und mehr als die Hälfte ihrer bisherigen 416 Mandate und kommt jetzt auf 205 Sitze (-211), was nur noch 32,5 % des Bundestages ausmacht.

Die SPD, bei den Wahlen 2021 mit 25,7 % noch die stärkste Partei im Bundestag fiel mit einem Verlust von 9,3 %-Punkten auf 16,4 % zurück und wird mit 120 Abgeordnete (vorher 206) nur noch drittstärkste Fraktion hinter CDU/CSU und AfD. Bei Bündnis 90/Die Grünen fielen die Verluste mit 3,1 %-Punkten auf 11,6 % und 85 Abgeordneten (-33) geringer aus. Für die SPD ist dies das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg, während die Grünen ein Abrutschen unter die 10%-Hürde verhindern konnten.

Trotz des Versuchs, sich von der Politik der Ampelkoalition zu distanzieren, stürzt die FDP mit ihrem Spitzenkandidaten Lindner und dem historisch schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte ab: Mit 4,33 % scheitert die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde und verliert alle Mandate im Bundestag.

Die SPD verlor 1.760.000 ihrer Wähler*innen an die Union, 720.000 an die AfD und 560.000 an die Linke, konnte aber nur 250.000 Nichtwähler*innen und 120.000 FDP-Wähler*innen hinzugewinnen.

Union und SPD kommen zusammen auf 44,9 % der Stimmen und 328 (von 630) Abgeordneten. Das sind 52,1 % der Mandate im Bundestag und reicht für eine Mehrheitsregierung, aber nicht für eine Zweidrittelmehrheit, die z. B. für Verfassungsänderungen notwendig wäre.

Damit bestätigt sich ein zweiter empirischer Befund: Wer Regierungsverantwortung trägt, während immer mehr Menschen die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren bekommen, wird abgestraft. In diesem Fall zugunsten der (extrem) rechten und linken Opposition.

Die Linke, deren Chancen, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, noch wenige Wochen vor der Wahl als gering eingeschätzt wurden, ist mit 8,8 % (+3,9 Prozentpunkte) und 64 Abgeordneten (+25) gestärkt aus der Bundestagswahl hervorgegangen. Im Osten erreichte sie 12,9 %, im Westen 7,9 % der gültigen Stimmen. . Offensichtlich hat Die Linke nach ihrer Trennung von Sarah Wagenknecht und deren Anhänger*innen im Oktober 2023 vieles richtig gemacht und insbesondere in der Gunst der jüngeren Wähler*innen stark zugelegt. Bis zu den Bundestagwahlen konnte die Linke ihre Mitgliederzahl von 50.000 auf 110.000 mehr als verdoppeln, wobei vor allem junge Menschen unter 30 Jahren in die Partei eintraten. So viele Mitglieder hatte die Linke noch nie.

Zu den Dingen, die Die Linke gemeinsam mit den neuen Mitgliedern richtig gemacht hat, gehören die konsequente Abgrenzung nach rechts und das scharfe Anprangern des Schulterschlusses der Union mit der AfD, der Kampf gegen Rassismus und Faschismus, ebenso wie das Aufgreifen sozialer Themen wie Mieten, Lebenshaltungskosten und soziale Sicherheit. Auch ein intensiver Haustürwahlkampf, bei dem an 600.000 Haushalten angeklopft wurde, sowie eine kluge Nutzung der sozialen Medien, nutzte dem spektakulären Aufschwung. Auch eine geordnete innerparteiliche Diskussion und damit ein geschlossenes Auftreten der Partei trugen dazu bei. [1]

Bei den 18- bis 24-jährigen Wähler*innen wird Die Linke mit 25 % Zustimmung stärkste Partei (bei den Erstwähler*innen erreicht sie sogar 27 %), bei den 25- bis 34-Jährigen erreicht Die Linke immerhin noch 16 Prozent und wird in dieser Altersgruppe zweitstärkste Partei hinter der AfD. Bei der jüngsten Altersgruppe ist allerdings noch eine Differenzierung zu beachten: Von den jüngeren Frauen wählte ein Drittel (35 %) Die Linke, von den jüngeren Männern 27 % die AfD.

Den größten Zuwachs erhielt Die Linke durch 700.000 Wähler*innen der Grünen, 560.000 der SPD, 290.000 Nichtwähler*innen sowie 100.000 der FDP und 70.000 der Union; Die Linke verlor 350.000 Wähler*innen an das BSW und 110.000 an die AfD. Zudem hat Die Linke ihre Mitgliederzahl seit Jahresbeginn von rund 50.000 auf über 100.000 mehr als verdoppelt.

Damit kommen wir zur dritten Evidenz: Linke Politik, die antifaschistische Solidarität und die soziale Lage der Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird auch elektoral von (vor allem jungen) Menschen getragen.

Das BSW erreichte mit 2.468.670 Stimmen 4,972 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen; es fehlten lediglich 13.453 Stimmen zur 5-Prozent-Hürde. Auch dies unterstreicht die oben erwähnte zweite Evidenz: Wer sich – wie das BSW – rechten Narrativen anpasst und diese übernimmt, stärkt das (rechte) Original und kann dabei selbst untergehen.

Hätte das BSW den Sprung in den Bundestag geschafft, wäre die Anzahl der Mandate der anderen Parteien entsprechend niedriger und dann hätten Union und SPD keine Mehrheit im Bundestag; dann wäre eine Dreierbündnis (von Union, SPD und Grünen) für eine Regierungsmehrheit notwendig.

Von den knapp 60,5 Millionen Wahlberechtigten haben 49,6 Millionen eine gültige Stimme abgegeben. Die Wahlbeteiligung stieg damit auf 82,5 Prozent (+6,2 Prozent gegenüber der Bundestagswahl 2021), lag aber immer noch deutlich unter den höheren Wahlbeteiligungen (über 90 Prozent)  der 1970er Jahre. Allerdings ist die Wahlbeteiligung ungleich verteilt: „Die Muster der Nichtwahl sind eindeutig: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto geringer ist dort die Wahlbeteiligung. Die Wahrscheinlichkeit, nicht zur Wahl zu gehen, ist bei Menschen mit niedrigem Einkommen und geringer formaler Bildung besonders hoch“, stellte bereits im September 2023 eine Studie von Armin Schäfer im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Bundestagswahl 2021 fest. Dies dürfte sich auch bei der Bundestagswahl 2025 bestätigen. So zeigt auch die Bürgerschaftswahl am 2. März 2025 in Hamburg bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 68 Prozent sehr unterschiede Beteiligungen von 47,1 bis 83,3 Prozent. Dabei fällt auf, dass die Stadtteile mit der niedrigsten Wahlbeteiligung auch die mit den niedrigsten Einkommen sind, während die Stadtteile mit den höchsten Einkommen auch die höchste Wahlbeteiligung aufweisen. Da wohlhabendere Menschen nicht nur mehr, sondern auch anders wählen als ärmere, kommt es zu einer politischen Verschiebung weg von einer Vertretung der Interessen der unteren Einkommensschichten hin zu den Anliegen der Wohlhabenden.

Bei Wählenden mit „schlechter wirtschaftlicher Situation“ stimmten 39 % für die AfD, 17 % für die Union, 12 % für die SPD, 11% für die Linke und 6 % für die Grünen. Mehr als die Hälfte der Wähler*innen (53%) geben an, große Sorgen zu haben, ihre Rechnungen nicht mehr zahlen zu können. Bei den Wähler*innen der AfD sind es 75 %, bei der Linken 60 %, der Union 46 %, der SPD 43 % und den Grünen 28 %.

Würden die Ergebnisse der Parteien bei dieser Bundestagswahl nicht in Prozent der gültigen Stimmen, sondern in Prozent aller Wahlberechtigten berechnet, so würde sich folgendes Bild ergeben:

Union und AfD, die zusammen 57 % der Abgeordneten stellen, repräsentieren nur (aber immerhin) noch 40,5 % der Wahlberechtigten.

Union und SPD repräsentieren trotz einer Mehrheit von 52,1 % der Mandate im Bundestag, die zur Bildung einer Regierungskoalition berechtigt, zusammen nur 36,9 %, also lediglich ein gutes Drittel der Wahlberechtigten.

Neben den Nichtwählern gibt es eine große Zahl von Menschen, die überhaupt nicht wahlberechtigt sind, darunter Jugendliche unter 18 Jahren und vor allem die 12,1 Millionen in Deutschland lebenden und gemeldeten Ausländer und Staatenlose. Neben der Nichtbeteiligung vor allem ärmerer Menschen stellt der Ausschluss eines großen Teils der Bevölkerung von der Wahl ein massives Demokratiedefizit dar. Würde dies geändert, sähe das Wahlergebnis zum Teil anders aus.

Die traditionellen Parteien sind nicht nur geschwächt, auch ihre Klientel verändert sich. Während die Union vor allem noch für die Älteren attraktiv ist, ist es die AfD zunehmend für die 25- bis 44-Jährigen. Während die SPD nur noch 12 % der Stimmen der Arbeiter*innen (-14 %) und 13 % der Arbeitslosen bekommt, wählen 38 % der Arbeiter*innen (+17 %) und 34 % der Arbeitslosen die AfD. In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt im Januar 2025 45,6 Millionen Erwerbstätige; 72 % davon sind Angestellte und 11 % (5 Millionen) sind Arbeiter*innen (außerdem 5 % Beamt*innen, 8,7 % Selbständige und 3,6 % Auszubildende); in den 1990er Jahren betrug der Anteil der Arbeiter*innen noch 36-39 %, der der Angestellten 45-47 %. Bei den Angestellten ist die Union mit 26% die stärkste Partei, gefolgt von der AfD mit 21 %, der SPD mit 15 %, den Grünen mit 13 % und der Linken mit 9 %. Von den 5 Millionen „Arbeiter*innen“ ist wahrscheinlich ein großer Teil überhaupt nicht wahlberechtigt, da sie zu den 12,1 Millionen in Deutschland ansässigen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit gehören.

Wird jedoch der soziologisch überholte Unterschied von Arbeiter*innen und Abgestellten beiseitegelassen (in verschiedenen anderen Ländern ist dieser Unterschied auch gesetzlich abgeschafft) und werden beide Kategorien zusammen als Lohnabhängige oder lohnabhängig Beschäftigte angesehen, so ist dabei die Union mit 25,5 % führend, gefolgt von der AfD mit 23,3 %, der SPD 14,6 %, die Grünen 12,0%, Die Linke 8,1 %, BSW 5,7 % und FDP 4,0 %. Die Lohnabhängigen, wählen demnach mehrheitlich rechts, für SPD, Linke oder Grüne rund ein Drittel.

Punkten konnte die AfD insbesondere bei Menschen, deren finanzielle Lage schlecht ist (39%). Obwohl ihr Programm – mit Entlastungen vor allem für Besserverdienende und Sozialabbau – genau das Gegenteil aussagt, konnte sich die AfD erfolgreich als „Partei der kleinen Leute“ inszenieren. Trotz gewerkschaftlicher Warnungen, dass Beschäftigte von der AfD keine Verbesserungen zu erwarten hätten, , wählten viele Menschen in zunehmend prekären Lebenslagen die AfD – zu 39 % aus Protest gegen die Regierungsparteien, aber zu 54 % aus Zustimmung zu deren Programm, inklusive oder gerade wegen deren rassistischen und nationalistischen Ausgrenzungspolitik.

Mit dem Mythos der „Partei der kleinen Leute“ verbindet die AfD auch das Narrativ  eines  unaufhaltsamen Aufstiegs, im Sinne von „die CDU wird das nicht lange machen und dann werden wir die stärkste Partei“. Das muss keineswegs so sein. Ob die AfD weiter erstarkt oder aber zurückgedrängt wird, hängt wesentlich davon ab, ob ihr die Basis der ökonomischen Verarmung von immer mehr Menschen entzogen wird. Ihr Aufstieg ist weder geradlinig noch unaufhaltsam, wie das parallele Erstarken einer linken Alternative vor allem unter Jugendlichen zeigt. Wir dürfen nicht vergessen, dass durchschnittlich 80 % derjenigen, die zur Wahl gegangen sind, nicht AfD gewählt haben (wenn auch mit sehr großen Unterschieden je nach geographischer und sozialer Lage). Dennoch muss ernst genommen werden, dass die AfD zum Rattenfänger für Menschen wird, denen es nicht so gut geht.

Nach der Bundestagswahl 2025 gibt es vielfältige Herausforderungen, von denen ich folgende hervorheben möchte. Den Aufstieg der AfD, rechtes Gedankengut und rassistische Praxis eindämmen und dazu auch demokratische Entscheidungsstrukturen ebenso wie die Rechte von Minderheiten verteidigen. Die wachsende Ungleichheit und die Verschlechterung der sozialen Lage vieler Menschen bekämpfen; die Zukunftsängste der Menschen liefern den Nährboden für die populistischen Machenschaften und Stärkung der Rechten und Extremrechten. Dabei auch die Herausforderungen des Klimawandels ernst nehmen, der gerade die Menschen, die jetzt schon Angst haben nicht über die Runden zu kommen am meisten trifft und verhindern, dass der Klimawandel nicht als Anlass dient die sozialen Ungleichheiten und Ängste zu vergrößern. All dies hängt zusammen und ist notgedrungen mit der Macht- und Systemfragen verbunden – „system change, not climate change“.

Die Linke ist dabei, ihr Organisationskonzept zu präzisieren, insbesondere im Hinblick auf die Integration neuer Mitglieder, aber auch im Hinblick auf ihre parlamentarische und außerparlamentarische Ausrichtung.

Sowohl das Konzept einer „antifaschistischen Wirtschaftspolitik“, wie es vor allem von der Ökonomin Isabella M. Weber entwickelt wurde und in progressiven Kreisen u.a. von Wirtschaftswissenschaftler*innen intensiv diskutiert wird [2], als auch das Konzept einer „ökosozialistischen Transformation“ vom Soziologen Michael Löwy, das eine tiefer gehende gesellschaftliche Transformation anstrebt und zu Zeit international auf breiter Basis diskutiert wird [3], beinhalten wichtige Ansätze dazu. Auch der Beitrag von Thomas Goes „Die Linke nach der Wahl aufbauen!“ unter emanzipation.org (10. März 2025) ist ein wichtiger Beitrag in dieser Debatte.

Auf all dies werde ich demnächst ausführlicher zurückkommen.


Justin Turpel, 10. März 2025
Wurde in den nach folgenden Tagen noch an einigen Punkten korrigiert.

[1] Wie die Linke ihr Comeback schaffte, darüber berichten die Vorsitzende Ines Schwerdtner und Jan van Aken in folgendem Beitrag:“ Das Comeback der Linken – So sind wir wieder in den Aufwind gekommen.“ (Rosalux.org 25.2.2025)

[2] Um sich einen Überblick zu verschaffen, hier bereits einige Literaturhinweise:
Antifaschistische Ökonomik? (Fred Heussner, Exploring Economics)
Ökonomin Weber zu Wirtschaft unter Trump: „Angst ist ein wichtiger Faktor“ (taz, 11.11.024)
Isabella Weber: So geht antifaschistische Wirtschaftspolitik (JACOBIN Magazin, 18.11.2024)
Isabella Weber: Inflation stürzt Regierungen (SURPLUS Magazin, 25.1.2025)
Antifaschistische Wirtschaftspolitik ist dringender denn je (SURPLUS Magazin, 24.2.2025)

[3] Siehe dazu u.a.

Dieser Beitrag wurde auf Deutsch ebenfalls veröffentlicht
– auf dem Internet-Portal von Emanzipation.org (Zeitschrift für ökosozialistische Strategie).

und auf Französisch
– auf dem Internet-Portal von Europe Solidaire sans Frontières- ESSF – Français
– und des CADTM – Comité pour l’abolition des dettes illégitimes [fr]

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