Auf einmal sind sich alle einig: Tragödien, wie das erneute Flüchtlingsdrama im Mittelmeer dürfen sich nicht wiederholen. Dabei waren doch genau solche bewusst in Kauf genommen worden … Wird das EU-Tötungsprogramm im Mittelmeer jetzt gestoppt? – Hier meine Stellungnahme, sowie Eindrücke einer Sitzung der aussenpolitischen Kommission der Abgeordnetenkammer am letzten Freitag …
Anlässlich der Dringlichkeitssitzung der außenpolitischen Kommission der Abgeordnetenkammer am letzten Freitag brachte Außenminister Jean Asselborn es auf den Punkt: „Wenn die Rettung aus Seenot allzu effizient wird, werden immer mehr Flüchtlinge den Weg über das Mittelmeer nach Europa finden“ – resümierte er die Haltung zahlreicher Vertreter europäischer Staaten. Nicht dass er damit einverstanden wäre, ergänzte er, dies sei jedoch ein Aspekt, auf den man Rücksicht nehmen müsse …
„Nur nicht allzu effizient werden“
Was heißt das denn: die Rettung von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und aus Perspektivlosigkeit flüchten, darf „nicht allzu effizient werden“, weil die Flüchtlinge sonst immer zahlreicher werden! Im Umkehrschluss heißt dies doch – wenn keine alternativen Wege abgesichert werden – nichts anderes, als dass man einen Teil der Flüchtlinge absaufen lassen sollte, weil es deren sonst zu viele würden!
Im November 2014 war das italienische Rettungsprogramm für Flüchtlinge „Mare Nostrum“, das innerhalb von einem Jahr 130.000 Flüchtlinge in Seenot gerettet und 351 Schlepper dingfest gemacht hat, von der EU-Grenzschutzmission „Triton“ abgelöst worden. Menschenrechtler und Hilfsorganisationen sahen im EU-Programm, das jährlich 70 Millionen Euro weniger kostet als das Seenotrettungsprogramm der Italiener, aber eher eine Abschreckungsmaßnahme denn ein Rettungsprogramm.
Dem Massensterben tatenlos zusehen?
Tatsächlich waren das Ertrinken von 330 Flüchtlingen am 11. Februar 2015, ebenso wie von 400 Menschen Anfang vergangener Woche, nur eine Schreckensnachricht unter vielen, die nichts an der Unzulänglichkeit der EU-Programme änderten und keine einzige neue Initiative in die Wege leiteten – Man hüte sich davor „allzu effizient“ zu werden! (1)
Bei der Dringlichkeitssitzung der außenpolitischen Kommission, zu der sich Luxemburgs Abgeordnete am letzten Freitag auf Grund der Katastrophe im Mittelmeer des Vortages aufrafften, deutete Außenminister Asselborn an, er sehe ein, dass man in der Europäischen Union darüber sprechen müsse, ob man nicht mehr tun könne … das war’s. Dabei war nicht einmal klar, ob das Thema es auf die Tagesordnung des Außenministertreffens vom heutigen Montag schaffen würde! Für den 16. Juni (!) sei ein Rat der Innen- und Immigrationsminister geplant und die EU-Kommission würde über neue Vorschläge zur Migrationspolitik nachdenken …
50 Millionen auf der Flucht …
Immerhin verurteilten alle Teilnehmer der außenpolitischen Kommission am letzten Freitag, die Aussage der EU-Sprecherin vom Vortag, die EU verfüge derzeit „weder über das Geld noch die politische Rückendeckung“, um effizientere „Rettungsoperationen durchführen zu können“! Demnach sollten wir dem Massensterben im Mittelmeer weiterhin tatenlos zusehen?
2013 waren weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. (2) Und die Anzahl ist steigend, vor allem im Mittelmeerraum, in nächster Zeit sei mit 500.000 Flüchtlingen nach Europa zu rechnen. Deshalb wäre dies während der EU-Präsidentschaft sicherlich ein wichtiges Thema, sagte Außenminister Asselborn am Freitag. Und alle waren einverstanden, dass man im Herbst, unter Luxemburger Präsidentschaft, darüber diskutieren könne … Die CSV fügte hinzu, dass man dann aber auch über Quoten zwischen Staaten und zwischen Gemeinden reden müsse …, ob die Regierung daran gedacht habe?! Auch müsse man besser zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheiden … Als gäbe es einen Unterschied zwischen dem Lebenswert eines Flüchtlings oder dem eines Immigranten!
Sofortprogramm „nötig und möglich“
Hingegen betonte der EP-Abgeordnete Charel Goerens, der ebenfalls am Freitag an der Kommissionsitzung teilnahm, dass es „weder technische, noch finanzielle Ursachen geben könnte“ um nicht sofort ein Seenotrettungsprogramm für die Flüchtlinge auf die Beine zu stellen. Und selbst wenn in den nächsten Monaten eine halbe Million Flüchtlinge nach Europa käme und man diese auf alle Länder verteilen würde, so bedeute dies für Luxemburg dennoch nur eine Aufnahme von 500 Flüchtlinge und demnach nur ein Zehntel von dem was wir während der Kosovo-Krise an Flüchtlingen „verkrafteten“. Ein umfassendes und effizientes Seenotrettungsprogramm sei dringend nötig und könnte kurzfristig in die Wege geleitet werden …
Neues Drama lässt aufschrecken
Nachdem am gestrigen Sonntag erneut ein Boot mit 700 Flüchtlingen kenterte, von denen bloß 28 Menschen gerettet wurden, gelangt das Thema dann doch noch auf die Tagesordnung der EU-Außenminister, die sich heute in Luxemburg treffen.
„Wenn sich die Bilanz dieser erneuten Tragödie bestätigen sollte, sind in den vergangenen zehn Tagen mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen“, sagte die UNHCR-Sprecherin dem italienischen TV-Sender Rai. Die Seenotrettung war also tatsächlich „nicht allzu effizient“, womit die EU mindestens ein Ziel erreicht hätte. Vor der Flucht abschrecken wird dies jedoch nicht, und zwar solange nicht, wie Menschen vor Krieg, Verfolgung und aus Perspektivlosigkeit flüchten müssen.
Bleibt es nun weiterhin beim Entrüsten und Bedauern, oder wird jetzt kurzfristig ein Seenotrettungsprogramm erstellt? Und wie wäre es mit einer positiven Antwort auf die Forderung von Amnesty International, dass die europäischen Staaten endlich dafür sorgen, dass für Flüchtlinge sichere und legale Routen nach Europa existierten, damit die gefährlichen Fahrten über das Mittelmeer ein Ende haben?!
Justin TURPEL, 20. April 2015
————
(1) Auch nicht in Luxemburg: zwei parlamentarische Anfragen meinerseits, davon eine Dringlichkeitsanfrage, haben überhaupt nichts am „business as usual“ geändert … Eine Motion zur Lage der Flüchtlinge im Mittelmeer, die von der Plenarsitzung der Abgeordnetenkammer an die zuständige Kommission verwiesen wurde, wurde dort aber nicht einmal behandelt …
(2) „Allein im Irak wurden seit Anfang 2014 mindestens 2,7 Millionen Menschen vertrieben, nicht alle, aber viele von ihnen werden ihre Heimat verlassen müssen. In Syrien sind es seit Beginn des Bürgerkriegs fast zwölf Millionen. Dazu kommen Libyen, Jemen, Somalia – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Flüchtlingskatastrophe wird eine der schlimmsten, die es je gab.“ (Tagesspiegel, 19.4.2015)